Christina Gutz
Traditionelles Karate versus Sportkarate?
„Die Kampfkünste sind wie der Kosmos, sie sind unendlich. Sei dir bewusst, dass es dort keine Grenzen gibt.“ Hironori Otsuka[1]
Eine kurze historische Einführung
Karate entwickelte sich auf den Ryukyu Inseln, dem heutigen Okinawa, seit Ende des 14. Jahrhunderts unter chinesischem Einfluss über viele Jahrhunderte als ein Kampf- und Selbstverteidigungssystem. Anfang des 20. Jahrhunderts gelangte Karate zum japanischen Festland. Auf einer vom japanischen Kulturministerium organisierten Veranstaltung, dem „Dai Ikkai-Taiiku Tenrankai“, wurde es im Juni 1922 das erste Mal öffentlich gezeigt.[2]
Im Unterschied zum Koryu, den traditionellen japanischen Kampfkünsten, die vor dem Beginn der Meiji Restauration 1868 entstanden, gehört Karate zum Gendai Budo, den Kampfkünsten, die nach 1868 in Japan gegründet wurden. Im Gendai Budo geht es einerseits um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und andererseits um die Selbstverteidigung. Wado Ryu Karate bildet hier insofern eine Ausnahme, als Hironori Otsuka (1892 - 1982) sein Wissen aus dem japanischen Shindo Yoshin Ryu, einer Koryu Schule, in das von ihm 1934 gegründete Wado Ryu übertrug.[3]
Anko Itosu (1832 – 1916) reformierte Anfang des 20. Jahrhunderts das Karate Okinawas, indem er aus der geheimen Kampfkunst ein System entwickelte, das zur körperlichen Ertüchtigung und geistigen Erziehung im Sinne des Do an den Schulen gelehrt werden konnte. Hironori Otsuka schuf die frühesten Methoden des Karate Jiyu-Kumite aus dem Jujutsu Randori und Shiai und führte den Freikampf mit einem Regelwerk in das Karate ein. Historisch betrachtet kam der freie Kampf somit vom Schwert über das Jujutsu und Kendo zum Karate.[4], [5]
Seit dem Ende des II. Weltkrieges 1945 verbreitete sich Karate weltweit und ist heute in verschiedene Stilrichtungen wie Wado Ryu, Shito Ryu, Goju Ryu, Shotokan und in Karate Organisationen, deren größte die World Karate Federation (WKF) ist, aufgeteilt.
Traditionelles Karate versus Sportkarate?
Vorneweg möchte ich bemerken, dass in Deutschland Karate generell unter dem Dach des Deutschen Karate Verbandes e. V. organisiert ist. Sport- und traditionelles Karate sind sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene präsent und miteinander vernetzt. Die Kyu- und Dan-Prüfungsprogramme der einzelnen Stilrichtungen gewährleisten einen einheitlichen Rahmen, Erwartungshorizont und Transparenz. Auf Landesebene wird in den Vereinen sowohl traditionelles als auch Sportkarate trainiert. Dies ist abhängig zum einen von der Ausrichtung der Vereine und zum anderen von den dort unterrichtenden Senseis und Trainern.
Sportkarate spricht Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene an. Es bietet ihnen Spaß beim Training in der Gruppe, Freude an der Bewegung, Freude an den Lernerfolgen, und es stabilisiert bzw. verbessert ihre Gesundheit. Oftmals werden diese Karateka in ihren Vereinen und Schulen über ihre Trainer an den Wettkampf herangeführt. Im Wettkampf geht es um den sportlichen Vergleich und darum, Champion zu werden. Der sportliche Wettkampf hat klare Regeln, Punktesysteme, Gewichts-, Altersklassen und Geschlechtertrennung. Voraussetzung für den Wettkampf sind Standards, so dass es zur Nivellierung der Kata und des Kumite kommt.[6] Darüber hinaus geht es auch um Öffentlichkeitsarbeit bzw. um eine Steigerung der Attraktivität des Karate in der Öffentlichkeit, und so werden zum Beispiel in öffentlichen Wettkampfvorführungen oft Showeffekte eingebaut.
Vom traditionellen Karate fühlen sich eher Erwachsene angesprochen. Wie beim Sportkarate bietet es Spaß beim Training in der Gruppe, Freude an der Bewegung, Freude an den Lernerfolgen, stabilisiert bzw. verbessert die Gesundheit. Dennoch bestehen Unterschiede:
Traditionelles Karate fokussiert die Selbstverteidigung, Wado Ryu den Gedanken des Sente, des Angriffs. Eine Erklärung bietet der Blick in die Geschichte bzw. die Realität im Kampf: Auf einem Schlachtfeld, in einem Zweikampf ging und geht es immer um Sieg oder Niederlage, um Leben und Tod. Oberflächliche Aktionen oder unnötige Techniken fehlen deshalb im traditionellen Karate. Jede Bewegung hat hier eine Bedeutung, traditionelles Karate geht direkt zum Ziel (Kakugo), um das Überleben zu sichern.
Der Sportkarateka dagegen konzentriert sich in der Regel auf Grundtechniken, Kombinationen und Kata. Nimmt er an Wettkämpfen teil, steht die spezielle Vorbereitung auf diesen Wettkampf im Mittelpunkt des Trainings: Techniken und deren Ausführung werden so geübt, dass sie dem Karateka Punkte bringen. Kenei Mabuni hat dies treffend formuliert:
„Nachdem der japanische Karateverband geschaffen worden war, entstand das Wettkampfkarate, das von der japanischen Gesellschaft für Körpererziehung unterstützt wurde und sich auch international entwickelt. Die Grundlage des Wettkampfkarate blieb aber das Budo. … Wenn ich ins Ausland fahre, erkläre ich immer, dass das Karate Budo sei und nicht einfach Wettkampfsport, und dass das Wichtigste am Budo geistiger Natur sei. … Das Karate dort (in Japan, CG) ist stark wettkampforientiert. … Daher dient die Trainingszeit stets der Vorbereitung auf irgendeinen Wettkampf. Im Ergebnis wird immer das gleiche wiederholt und es bleibt keine Zeit, Hebel, Würfe, Vitalpunkttechniken oder Techniken mit den traditionellen okinawanischen Waffen wie Bo und Sai zu trainieren. Das bedeutet, dass es auch immer seltener Gelegenheit gibt, diese Techniken wenigstens kennenzulernen.“[7]
Während das Sportkarate somit immer an der Oberfläche (Omote) bleibt, bietet das traditionelle Karate dem Karateka ein Eintauchen in den Dialog mit der Historie, denn im traditionellen Karate werden das alte Wissen und Können der jeweiligen Stilrichtung bewahrt und gepflegt. Voraussetzung hierfür ist der Unterricht bei einem anerkannten und erfahrenen Sensei, der Träger dieses Wissens und Könnens ist und es an seine Schüler weitergibt. Er kann in seinem Training unmittelbar durch Übungen und Erläuterungen (Kuden) vermitteln, was unter der Oberfläche liegt, den Kata und Kumite Formen innewohnt, aber nicht offensichtlich ist (Ura und Henka). Für die Schüler wird dies emotional und rational erfahrbar und kann durch die direkte Verzahnung von Lehre und Übung umgesetzt werden. Dies geschieht durch eine über viele Jahre und sehr oft über Jahrzehnte hinweg bestehende enge, vertrauensvolle und auch familiäre Verbindung zwischen dem Sensei und seinen Schülern und den Schülern untereinander. Es geht also um mehr als die Freude am gemeinsamen Training: Es geht um den Gedanken, das Erbe des Stils zu bewahren und weiterzugeben, um die Entwicklung der Persönlichkeit, um das stete Arbeiten an sich selbst.
Wie eingangs erwähnt, nimmt diese Entwicklung der Persönlichkeit im Gendai Budo, zu dem Karate gehört, eine herausragende Stellung ein. Eine Schlüsselrolle kommt bei dieser Weiterentwicklung dem Reigi, der Etikette, zu. Es handelt sich hier nicht um bloße Formen und Regeln, sondern um das Bemühen, das eigene Ego zu überwinden, Respekt gegenüber anderen zu verinnerlichen, sich um hohe Aufmerksamkeit zu bemühen und – hier wird deutlich, dass Reigi im Besonderen und Budo im Allgemeinen mehr umfassen als das Verhalten im Dojo –: Es geht um eine tadellose innere und äußere Haltung gegenüber sich selbst und gegenüber der Welt. Traditionelles Karate ernsthaft ausgeführt erfordert deshalb Geduld, Beständigkeit, Selbstdisziplin, Bescheidenheit, Zurückhaltung und letztendlich auch lebenslange Hingabe.
Budo bildet gleichwohl die Grundlage für das Sport- und Wettkampfkarate. Budo und Reigi dürfen nicht als bloße Form betrachtet werden, die Trainer sollten sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und die Form mit Leben füllen und – wie Takashi Sasagawa schreibt – Karatedo „mit großem Enthusiasmus und dem Wissen um die Philosophie (des Budo, CG) verbreiten“[8].
Nicht traditionelles Karate versus Sportkarate, sondern traditionelles Karate und Sportkarate
Meiner Auffassung nach schließen sich traditionelles Karate und Sportkarate nicht aus, vielmehr befruchten sie sich gegenseitig: Ausgehend von der gemeinsamen Grundlage der Philosophie des Budo und den Budo-Prinzipien kann das Sportkarate Nachwuchs für das Karate gewinnen und im Training und Wettkampf fördern. Durch das Miteinander von sportlichem Karate und traditionellem Karate im Verein, auf Landes- und Bundesebene kann der Sportler in das traditionelle Karate „hineinwachsen“ und sich dafür begeistern. Das traditionelle Karate lebt weiter, das historische Erbe wird bewahrt. Ältere Karateka bleiben geistig und körperlich aktiv und vermitteln ihr Wissen und Können an Jüngere. Dieser aktive Austausch der Karateka untereinander, zwischen Jung und Alt, Tradition und Moderne, zwischen dem Sensei und seinen Schülern hält Budo lebendig und bereichert unser Leben.
Literatur
Gutz, Christina: Kumite und Randori: Die Brücke vom Kata Training zum freien Kampf. Wado und TSYR Lehrgang mit Toby Threadgill (USA) und Kaki Kawano (Japan) am 21. und 22.02.2015 in Berlin
Gutz, Christina: Wado-Pfingstlehrgang 2012 in Berlin: “Koryu lives a little bit in Wado. Shindo Yoshin Ryu and Wado are like cousins.” (Toby Threadgill)
Japan Karatedo Federation: Karatedo Kata Model for Teaching Shiteigata, Japan 2001
Japan Karatedo Federation: Karatedo Kata Model for Teaching, Japan 2004
Kono, Teruo: Der Weg des Schwarzgurtes. Bremen 1996
Kono, Teruo: Karate. Der Weg zum Schwarzgurt. Hamburg 1982
Mabuni, Kenei: Leere Hand. Vom Wesen des Budo-Karate. Hg. Von Carlos Molina. Chemnitz 2007
Otsuka, Hironori: Wado Ryu Karate. Hamilton, Ontario 1997, S. 4 (Erstmals veröffentlicht im 44. Jahr der Showa Ära.)
Shigeru, Egami: The Heart of Karatedo 1976, p. 111. In: Pre–World War II Okinawa. Kumite was not part of karate training. Higaonna, Morio: Traditional Karatedo vol. 4 Applications of Kata 1990, p. 136.
Forbes, Julian: Traditional vs. Sport Karate http://www.downloadkarate.com/karate-articles/traditional-vs-sport-karate (04.05.2015)
Knobrl, Jan: The virtues of traditional karate vs. sports karate http://www.martiallife.com/index.php/component/content/article/3-martial-arts-interviews/38-jan-knobel-the-virtues-of-traditional-karate-vs-sports-karate.html (04.05.2015)
PZKT Traditional Karate Federation of Poland: Differences between traditional karate and modern schools.
http://www.karate.pl/differences_between_traditional_karate_and_modern_schools.php (04.05.2015)
[1] „Martial art technique is like the cosmos, it is infinite. Know that there are no such things as limits.“ Hironori Otsuka: Wado Ryu Karate. Hamilton, Ontario 1997, S. 4 (Erstmals veröffentlicht im 44. Jahr der Showa Ära.)
[2] Teruo Kono: Karate. Der Weg zum Schwarzgurt. Hamburg 1982, S. 11
[3] Toby Threadgill veranschaulichte dies 2012 in Berlin mit einem Bild: Otsuka nahm das Okinawa Karate, entfernte dessen Kernprinzipien und setzte die Kernprinzipien des Shindo Yoshin Ryu ein: “Otsuka took the core out and put the SYR core in it. … He made it more Japanese”, Toby Threadgill. So übertrug er das Wissen des Koryo in das Wado Ryu. In: Christina Gutz
Wado-Pfingstlehrgang 2012 in Berlin: “Koryu lives a little bit in Wado. Shindo Yoshin Ryu and Wado are like cousins.” (Toby Threadgill)
[4] “Wado is the root from all freestyle fighting and it came from sword.” Toby Threadgill, In: Christina Gutz: Kumite und Randori: Die Brücke vom Kata Training zum freien Kampf. Wado und TSYR Lehrgang mit Toby Threadgill (USA) und Kaki Kawano (Japan) am 21. und 22.02.2015 in Berlin
[5] Gichin Funakoshi (船越 義珍) said, "There are no contests in karate." Egami Shigeru: The Heart of Karatedo 1976, p. 111. In: Pre–World War II Okinawa. Kumite was not part of karate training. Higaonna, Morio: Traditional Karatedo Vol. 4 Applications of the Kata 1990, p. 136
[6] “Other, modern karate schools are descended from traditional karate. New schools based their techniques and stances on punches and kicks of the Japanese karate. Keeping the external resemblance, these schools introduced some basic changes. Changes in philosophy and moving the stress from the art of fight and self-defence to the point awarded sports competition consisting in punching and kicking, had biggest consequences. For example, it does not take an expert to notice that modern schools took from karate punching and kicking techniques only in the most general sense. In sports competition points are awarded on the basis of possibly the fastest and the most precise hitting the target with a fist or a foot.” PZKT Traditional Karate Federation of Poland: Differences between traditional karate and modern schools.
http://www.karate.pl/differences_between_traditional_karate_and_modern_schools.php (04.05.2015)
[7] Kenei Mabuni: Leere Hand. Vom Wesen des Budo-Karate. Herausgegben von Carlos Molina. Chemnitz 2007, S. 70, 72
[8] „In order to spread the wisdom of Karatedo widely as a means to rise healthy adults it is very important to have leading instructors who can display a strong enthusiasm and philosophy …“, Takashi Sasagawa: Preface. In: Japan Karatedo Federation: Karatedo Kata Model for Teaching Shiteigata, Japan 2001, S. 2